Im Spiegelbild der Bilderwelt
Am Anfang steht die groteske Aufnahme eines pompösen weiblichen Modells aus Pappmaché.1 Auf einem Pritschenwagen rollt die ungeschlachte Figur über das Kopfsteinpflaster einer von bröckelnden Gründerzeitfassaden gesäumten Straße. So unsicher offenbar, dass sie mit Seilen befestigt werden musste. Auch die Häuser neigen sich samt flankierenden Laternen leicht nach innen, als würden sie demnächst zusammenfallen. Aus Untersicht hat der Fotograf das schwarz-weiße, faktisch grau in grau getauchte Bild aufgenommen, die nackte Gestalt, die deshalb um so größer wirkt, als sie ohnehin ist, links in die Ecke platziert, und um dem Ganzen gleichsam die Krone aufzusetzen, hält sie noch einen Siegerkranz aus falschem Lorbeer über ihrem plumpen antikisierenden Haupt. An dem Bild scheint alles falsch zu sein, die Kulisse, die Atmosphäre, die Zeitstruktur, falsch wie die Siegesgöttin aus vergänglichem schäbigem Abfallmaterial statt haltbarem, kostbarem Marmor, falsch wie das Selbstbild, das eine Ideologie von den Verhältnissen entwirft, die sie verdeckt. Der Schauplatz des Bildes könnte Halle an der Saale sein, der Titel des Bildes in früheren Publikationen seines Autors suggeriert es jedenfalls. Alles könnte echt sein, wahr im Sinne des „Es ist gewesen“! Echt die abblätternden Häuserfassaden, der Pritschenwagen, vor den einmal Pferde gespannt wurden, die Tristesse und die ungeschickte Projektionsfigur mit Hoffnungs-Horizont. Der Fotograf hätte eine Spur vergangener Realität fixiert und in der grotesken Zuspitzung des Motivs ihre ungeschminkte Verfassung zur Erscheinung gebracht. Nicht die Aufnahme ist grotesk, sondern die Realität, die sie vergegenwärtigt. Scharfe Beobachtungsgabe, Wissen um die Eindrucksmacht von Bildern, ein Schuss Subversionsfreude und die Versiertheit im Umgang mit der Technik haben im Einfrieren des Augenblicks die grotesken Züge des Realen verstärkt und ein signifikantes Bild hervorgebracht. In dem Bild sind bereits alle Merkmale versammelt, die sich kurz darauf in einem bemerkenswerten fotografischen Werk zur bizarren Blüte entfalten werden. Anno 1987 war es, als Olaf Martens, damals Student (seit 1985) im renommierten Fachbereich Fotografie der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, dieses einzigartige Bild aufnahm. Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer, Fakt und Symbol einer Demarkationslinie, die Deutschland und Europa zerschnitten hatte. Was das Bild so prägnant macht, ist das untrügliche Gespür seines Urhebers für die subkutanen Widersprüche einer Realität, die daran wenig später relativ laut – wenn auch für viele keineswegs schmerzlos –kollabieren sollte, ohne dass die meisten die Widersprüche, die durch falsche Bilder und Sprüche verkleistert wurden, erkannt hätten – oder erkennen wollten. Es bedarf einer sprühenden Phantasie, um komplexe Zusammenhänge des Sichtbaren derart schlagend auf den Punkt zu bringen, wie das dem jungen (1963 geborenen) Fotografen gelang. Obwohl die Aufnahme mit dem lapidaren Titel „Halle/S. | 1987“ unbestreitbar dokumentarischen Charakter besitzt, zielt Martens ästhetisches Interesse nicht auf eine wie immer beschaffene Wiedergabe realer Ereignisse, Konstellationen oder Zustände. Möglich, dass er die Meinung Bertolt Brechts teilt, die Fotografie sei aufgrund ihres spezifischen Wesens unaufhebbar der Oberfläche der Erscheinungswelt verhaftet. Mit dem Unterschied, dass der Fotograf einen Blick für die Untiefen der Oberfläche hat und in deren trügerischen Spiegelungen manche Zusammenhänge zu sehen vermag, die sich gemeinhin erst dank umständlicher und erschöpfender Analyse erschließen. Gleichwohl ist die fotografische Aufnahme eines vermeintlichen in der verblichenen DDR von Staatswegen beliebten Umzugswagens nicht das, was sie vorgibt zu sein. Zwar war Halle der mutmaßliche Ort, wo sie entstand. Doch wahrscheinlich spiegelt sie nur die Kulisse eines Films, der in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielte. Die bombastische Siegesgöttin wäre kein Ausdruck kleinbürgerlich-sozialistischer Ästhetik, sondern kleinbürgerlich-nationalsozialistischer. Der Konjunktiv ist notwendig. Denn die Requisite spiegelt den Blick der ästhetischen Sicht des DDR-Films auf die Nazi-Zeit. In der Wahrnehmung nachfolgender, zumal westlich geprägter Generationen hat sich die Aufnahme indes in ein Sinnbild der späten DDR-Wirklichkeit verwandelt, kurz bevor das Regime implodierte. Die Realität als Filmkulisse – und umgekehrt, die Fotografie als Medium einer perfekten Rück-Projektion. Das vielschichtige Bild von Olaf Martens ist nicht das erste Ergebnis seiner fotografischen Praxis. Bereits als Heranwachsender hatte er begonnen, sich mit dem technischen Medium zu beschäftigen. Voraus ging eine reproduktive Tätigkeit. Durch Zufall hatte er eine illegale Marktlücke entdeckt. Er kopierte die westdeutsche Teenager-Zeitschrift Bravo, die seine Großeltern heimlich von ihren Reisen über die Grenze geschmuggelt hatten. In Halle und Leipzig bestand rege Nachfrage nach den Postern der populären westlichen Musik- und Filmstars. Das vergleichsweise sterile Jugendbild der Zeitschrift, die ganze Scharen pubertierender Westdeutscher in das Reich der Sexualität einführte, weckte seine schlummernde Kreativität und provozierte das Bedürfnis, seinerseits Bilder anzufertigen anstelle welche zu reproduzieren.2 Verhältnismäßig rasch und auf intuitivem Wege entdeckte er seine ureigene Domäne im schier unübersichtlichen Universum der Bilder des so genannten Medienzeitalters: Es ist jene Schnittstelle, wo sich Realität und Vision, Objektives und Subjektives, Äußeres und Inneres, die Realität der Fakten und die Wirklichkeit der Bilder begegnen, überlappen, vermischen und verschmelzen. Vielleicht sekundierte bei der unbewussten Suche nach der subjektiven ästhetischen Haltung neben der künstlichen Wirklichkeit des betont jugendlichen Bilderblattes die eigentümliche Realität des Teils Deutschlands, in dem er zu leben lernte und in dem man von Beginn an die Trostlosigkeit des Seins mit dem Vorschein dessen, was sein könnte, nach Kräften übertünchte. Bald fand er heraus, dass der fotografische Apparat zwar eine Maschine ist, die in einem Zug, aber akkurat aufzeichnet, was im Zugriff ihrer Optik existiert, zugleich aber das Projektionsgerät latenter Sehnsüchte, Wünsche und Lüste, die manchmal sozusagen unter der Hand in seine Bilder einsickern. Verantwortlich ist nicht allein die Inszenierung vor der Kamera, wie häufig behauptet wird, sondern aufgrund seiner besonderen Technik das Medium selbst, das auch noch dem Unglaubwürdigsten Glaubwürdigkeit verleiht. „Die Objektivität der Fotografie (kraft ihrer ,Entwicklung zur Automatik‘– K.H.) verleiht ihr eine Stärke und Glaubhaftigkeit, die jedem anderen Werk der bildenden Künste fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten Objektes zu glauben, des tatsächlich repräsentierten, das heißt, des in Zeit und Raum präsent gewordenen.“3 Im Lichte der Feststellung des französischen Filmtheoretikers André Bazin schrumpfen die Unterschiede von Dokumentar- und Nicht-Dokumentarfotografie zur „quantité négligeable“. Analog zu seiner Sensibilität für die unterschwelligen Widersprüche der Realität entwickelte sich die Vorliebe des Fotografen für Masken und Verkleidungen. Im alltäglichen Leben erfüllen die vielfältigen Larven zweierlei Zwecke, einen offensichtlichen und einen verborgenen. Dabei dient der offensichtliche dem Wunsch, etwas zu verbergen. Das Potemkinsche Dorf ist das Paradebeispiel dafür. Im verborgenen Zweck spiegelt sich hingegen ein komplizierterer Sachverhalt. Er speist sich oft aus den Bezirken des Unbewussten. Im Karneval gelangt er regelmäßig zur Geltung. Wer sich verkleidet, will (bisweilen) ein anderer sein, will darüber hinaus einem Verlangen Ausdruck geben, das die meisten unmaskiert zu äußern sich schämen, oder will eine Person im Momentum des Als-ob verkörpern, unerreichbar im realen Dasein. In den post-industriellen Mediengesellschaften hat der geheime Zweck längst das alltägliche Dasein erfasst. Seine Befolgung gehört zum Rüstzeug der gewöhnlichen Lebensbewältigung. Bekenne Dich zu Dir, verkünden zwar die Gurus der Lebenshilfe, doch Empirie beweist, sich verstellen heißt die Losung im gesellschaftlichen Verkehr. Kaum ein Fotograf der Gegenwart versteht sich ähnlich mimetisch auf das Spiel der Masken und Larven im sozialen Netzwerk wie Olaf Martens. Was in seinen Bildern authentisch erscheint, ist häufig Produkt überschießender Phantasie, was absurd und unvorstellbar nicht
minder häufig unbestreitbar echt. Perversion im wortwörtlichen Sinne heißt die Maxime seines ästhetischen Handelns, bis der Schein bricht und die Konturen des Wahren im Falschen, des Realen im Fiktiven sichtbar werden. Nicht von ungefähr widmet der Fotograf den Hintergründen seiner Bilder gesteigerte Aufmerksamkeit. Er misst den Hinterhöfen, Treppen, Verkaufsstätten, aufgelassenen Industriezonen und Wohn- zimmern ebenso wie den überladenen Palasträumen seiner Aufnahmen eine entscheidende Rolle zu. Sie sind mehr als dekorative Kulissen und so wichtig wie die Modelle, ihre Körpersprache, die Kleidung und die übrigen Accessoires der Szene. Der Begriff der Hintergrundinformation erhält eine überraschende Wendung. Halle und Leipzig, Berlin und Prag oder St. Petersburg vermitteln seinen Bildern den Stempel des Authentischen. Das Spiel, das sich hier verwirklicht, bezieht das Ambiente der Spielbühne in seine Dramaturgie ein. Gelegentlich treten die eigentlichen Produzenten der Garderobe und der glitzernden Schauseite des Spiels leibhaftig auf, die Näherinnen und die Crew des Fotografen. Olaf Martens ist nicht zufällig Pionier auf einem Gelände, das die westliche Mode- und Lifestyle-Fotografie weitgehend ausspart: Mittel- und Osteuropa. Er hat es zum bevorzugten Schauplatz seiner Kunst erkoren. In seinen Aufnahmen teilt sich nicht nur jene ungestüme Kraft des Aufbruchs mit, die ganz Europa verändern wird. Simultan demonstriert er, wie zerbrechlich der Boden ist, auf dem er sich vollzieht. Im chronologischen Ablauf seiner Bilder kristallisiert sich angesichts der Darstellung des menschlichen, nicht unbedingt immer weiblichen Körpers eine auffällige Tendenz aus: von der völligen Nacktheit zu einer bisweilen aufwändigen, freilich mehr ent- als verhüllenden Drapierung. Darin allerdings den Ausdruck einer zum Auftakt des 21. Jahrhunderts wachsenden Prüderie zu sehen, ist nicht weniger verfehlt, als einen Wandel der emotionalen Perspektive des Fotografen zu unterstellen. Antrieb ist eine tiefer liegende soziale Strömung. Sie findet ihren Ausdruck in der wachsenden Veräußerlichung des Privaten, befördert und beschleunigt nicht zuletzt von den Massenmedien. Namentlich den weiblichen Modellen der Fotografie ist ihre bloße Haut während der letzten zwanzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts, der Zeit, die das Werk von Martens umfasst, zu einer flexiblen Rüstung geworden, die augenscheinlich mehr ver- als enthüllt. Die kühlen fotografischen Bilder von Helmut Newton und seinen Epigonen haben die glatten und weitgehend un-erotischen Körper der Frauen emphatisch gefeiert. Kosmetikindustrie und Schönheitschirurgie sind ihre Schmieden in der Realität. Das Erotische ist aus den öffentlichen Körperbildern bis auf klägliche Restposten verschwunden. Die Verkleidung belebt das beunruhigende Geheimnis von neuem. Im Vergleich zu Newtons Modellen wirken die vitalen Frauen in Martens’frühen Bildern denn auch eher nackt als entkleidet, sogar ausgezogen. Entsprechend direkt ist ihre erotische Ausstrahlung. Von Glamour keine Spur. Ihre Ausstrahlung scheint den schillernden „Firnis“der fotografischen Oberfläche zu zerstören. Kein Zweifel, es sind Frauen, die nicht nur wissen, was sie wollen, sondern Menschen, die sich auch ganz selbstverständlich ihre Partner fürs sexuelle Vergnügen aussuchen. Die Bilder von Bianca und Simone, von Ute und Ilka e tutte quante, allesamt Freundinnen oder Freundinnen von Freunden des Fotografen und keine Berufsmodelle, reißen eine tiefe Kluft zur Aufnahme der stämmigen, unsicheren und künstlichen Siegesgöttin aus Halle auf. Zwei gegensätzlichere Frauenbilder sind nicht denkbar. Symbolisierte das eine die prüde Einstellung und die verdruckste, kleinbürgerliche Moral totalitärer Herrschaft, zeugt das andere von souveränen, ihre Lust voll ausspielenden, ihrer Körper selbstgewissen Individuen. Diese lebenssprühenden Frauen sind von der sterilen Pappgöttin jedoch gleichermaßen weltenweit entfernt wie von den properen „Bravo-Mädchen“ oder den coolen Lichtgestalten der Modefotografie. Wenn der Fotograf sie als Puppen inszeniert, parodiert er nur den typischen Männerblick sowie die konventionelle „Beauty-Foto- grafie“. Martens hat frische Luft in die Genres der Körper-Fotografie geblasen.
Genauso emanzipiert wie seine Hallenser und Leipziger Modelle geben sich die deutschen, tschechischen und vor allem russischen Nachfolgerinnen vor der Kamera des inzwischen arrivierten „Life-Style“-Fotografen: Anna, Katya, Sveta und Ulyana aus St. Petersburg oder Nicole, Lola, Lilli aus Halle und die übrigen. Einige haben das Kameraspiel zu ihrem Beruf erwählt, andere sind Tänzerinnen, Sportlerinnen von Herkunft oder Mitglieder der „besseren Gesellschaft“. Aus Prinzip nennt der Fotograf ihre Namen in den Bildtiteln. Sie sind nicht die obskuren Objekte seiner ästhetischen Begierden, sondern gleichberechtigte Partner im Spiel der Verkleidungen und partiellen Enthüllungen mit grotesken Spitzen. Sinn-fällig wird dies an dem unverhohlenen Spaß, den sie bei der Arbeit vor der Kamera verraten. Er überträgt sich unwillkürlich auf die Betrachter der Bilder. Weil Olaf Martens ein Grenzgänger4 im Reich der Konventionen zeitgenössischer Fotografie ist, plant er seine fotografischen Schritte äußerst sorgfältig. Dass er eine Lehre als Bauzeichner vollendete und als Konstrukteur (1982–1985) in einem Ingenieurbüro tätig war, trägt zur Disziplinierung seines sprudelnden Temperaments bei. Demgemäß schwierig ist es, seine fotografische Haltung mit einem Wort zu charakterisieren. Seine Bilder verweigern sich den einschlägigen Kategorien des Kunst- oder Medienmarktes. Ihn als Life-Style- oder Modefotografen zu bezeichnen, ist unzulänglich, wenn nicht abwegig. Es trifft die Sache nicht. Gerade die kursierenden Darstellungsmuster zu unterlaufen, die sich mit solchen Kategorien verbinden, ist sein Ziel. Außerdem ironisiert er geläufige Vorstellungsbilder. Etwa den „Dreier“-Traum eines jeden machohaften Mannes. In der Aufnahme „Ute, Ilka, Thomas | Halle-Trotha | 1988“5 versagt der Mann vor der Herausforderung. Er ist auf den entblößten Beinen der halbentkleideten Schönen eingeschlafen. Die beiden im Stich gelassenen Frauen müssen das Begonnene alleine zu Ende führen. Der Mann – das überschätzte Wesen. Martens ist ein durch und durch konzeptioneller Fotograf. Auf dem Hintergrund seiner Bilder siedeln weitere Bilder, Bilder der Kunst, der Fotografie oder der kollektiven Traumwelten.
Klaus Honnef
Anmerkungen: 1) Abb. S. 47, „Halle/S. | 1987“2) Olaf Martens. „davor + dahinter“, Ausstellungskatalog, Köln 2000, S. 13f. 3) André Bazin. Ontologie des fotografischen Bildes, in: ders. Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 24 4) Klaus Honnef, in: Olaf Martens. Fotografien, Kilchberg/Zürich, 1994, S. 8 5) Abb. S. 57, „Ute, Ilka, Thomas | Halle-Trotha | 1988“